Nichtoffener städtebaulicher Realisierungswettbewerb mit Hochbauteil | 04/2021
Quartiersentwicklung „Am Rotweg” in Stuttgart
©StudioVlayStreeruwitz mit rajek barosch landschaftsarchitektur
ein 2. Preis
Preisgeld: 30.000 EUR
Architektur, Stadtplanung / Städtebau
rajek barosch landschaftsarchitektur
Landschaftsarchitektur
Erläuterungstext
Quartiersexperiment als subversive Erbe
MANIFEST DER INKLUSION
Die Patchwork Familie ist ein Manifest der Inklusion, gelebt durch den Auftritt der Patchwork Familie, einer Gruppe von Häusern, deren Charakter und Talent sich den Genen ihrer Vorfahr*innen verdankt: den visionären Horizonten der berühmten, 1927 geborenen Großeltern, und der disziplinierten Bescheidenheit der 1951 geborenen Eltern, die sich in Reih und Glied aufgestellt haben, um den Wohnungssuchenden ein Dach über ihren Köpfen zu geben. Dass sie dabei jedem einzelnen Raum, selbst der Küche und dem Bad Licht Luft und Sonne schenken, haben ihnen ihre berühmten Eltern aus Weißenhof beigebracht.
Das Manifest der Inklusion ist ein Manifest der 3. Generation: die Patchwork Familie schreibt die Familiengeschichte konsequent fort. Dazu gehört auch das adoleszente Aufbegehren gegenüber ihren Eltern und Großeltern – eine unumstößliche Bedingung für die Entwicklung von Räumen, die in der Lage sind, inspirierende Antworten auf die neuen Herausforderungen der Zeit zu geben.
TOPOGRAFIE UND DAS PRINZIP DER 3 LANDUNGEN – 1927, 1951, 2027
1927: ENTLANG der Horizontalen
Die Großeltern folgen konsequent dem Verlauf der Schichtlinien, die ihre Leidenschaft gegenüber Horizontalität und Weite unterstreichen. Die Landung der Häuser inszeniert die Topographie als ein kollektives Rendezvous mit dem Horizont.
1951: QUER zur Horizontalen
Die Eltern stellen sich konsequent quer zu den Schichtlinien, um dem Wohnen auf beiden Häuserflanken Sonne zu geben. Die abgetreppte Landung verdankt sich dieser disziplinierten Bescheidenheit und ist ein zufälliges Rendezvous mit der Topografie.
2027: MIT den Horizontalen
In den Enkelkindern finden die elterliche Bescheidenheit und die großelterliche Leidenschaft subversiv zusammen. Mit der Landung der Häuser geht eine sanfte Reparatur der Topografie einher. Der neue „Fluss“ der Schichtlinien ist im Dialog mit den Häusern doppelt inklusiv: die Freiräume werden schallgeschützt „aufgebettet“, gleichzeitig schenkt das Quartier der Stadt eine barrierefreie Passage – Horizontalität wird in der Praxis des Alltags verankert.
LANDEN ZWISCHEN DEN BAUMINSELN – DAS AS-FOUND-ARCHIPEL
In den letzten 7 Jahrzehnten sind die Bestandsbäume den elterlichen Häusern über den Kopf gewachsen. Sie werden zu einem Archipel aus Bauminseln mit üppiger Vegetation zusammengefasst. Die Patchwork Familie wird daher – trotz Sturm und Drang – den Platz ihrer Eltern einnehmen. Denn wo die Eltern stehen, ist kein Baum gewachsen.
KISSEN UND KATAPULT – DIE TOPOGRAFISCHE REPARATUR DES FALLENS NACH NORDEN
Kissen
Zwei Kissen – eingeschüttete Parkhäuser – heben die nach Norden fallende Landschaft sanft an und schaffen ein horizontales, schallgeschütztes Plateau über dem Rotweg, das den Blick zum Feuerbachtal über die nunmehr unsichtbaren Fahrzeuge hinweg freigibt (Ha-Ha-Effekt). Die Einfamilienhäuser gegenüber blicken ihrerseits auf eine wunderbare Grünkulisse.
Katapult
Bestehende Geländesprünge werden durch Katapulte – spezielle Sockelprogramme –kurzgeschlossen („Halle Rot“, Quartierscafé, Kindergarten). Sie ermöglichen im Zusammenspiel mit den Kissen die barrierefreie Durchquerung des gesamten Quartiers.
BLICKE UND WINDE – DIE VORZÜGE DER QUERBÜRSTUNG
Die topografische Reparatur ermöglicht das Offenhalten des Nordrands, ein kostbares Erbe der quergebürsteten Elterngeneration, das in der Aufstellung der Patchwork Familie ablesbar bleibt: die Silhouette des Feuerbachtals bleibt sichtbar, die notwendige Fallwinddurchlüftung nach Norden wird sichergestellt und durch das aufgeständerte Brückenhaus an der Schozacher Straße weiter verstärkt. Die Querbürstung gibt zudem den Südblick auf Romeo und Julia, den Technoturm und die Bad Cannstatter Toscana mit dem Burgholzhofturm frei, nicht nur für die erste Reihe an der Fleiner Straße.
INKLUSIVE RÄNDER
An ihren Rändern stärkt die Patchwork Familie das latente Potenzial bestehender Situationen:
Urbanes Erdgeschoss an der Schozacher Straße
Die belebende Nutzungssequenz im Erdgeschoss an der Schozacher Straße (Büros, Co-Working Halle, Quartiersplateau) ergänzt die südlich bestehenden Sockelnutzungen.
ErdEgeschoss am Rotweg
Eine stattliche Grünkulisse stärkt die Atmosphäre des durchgrünten Rotwegs und schafft ein schallberuhigtes Freiraumplateau für das Quartier über den „Kissen“ der Sammelgaragen.
Perlenkette an der Fleiner Straße
Zwischen Hansi-Müller-Platz und Schozacher Straße fädelt sich eine programmatische Perlenkette auf (Sportplatz, Kindergarten, Pflegestützpunkt und BGZ-Headquarter).
DIE URBANE SUBSTANZ DES WOHNPROGRAMMS
Quartiersdiagonalen mit lebendigen Binnenräumen
Die beiden Quartiersdiagonalen werden durch eine Sequenz von Nachbarschaftsnutzungen belebt: Quartierscafé, Fahrradwerkstatt, Scheune, sowie die „Halle Rot“, ein quartiersübergreifendes Co-Working-Zentrum mit direktem Anschluss an das Quartiersplateau. Die konkrete Nutzung der Jokerräume (Bewegung, Lernen, Gäste, ...) wird im Dialog mit den Bewohner*innen anmoderiert. Das Plateau im Nahebereich der nördlichen Böschungskante wird durch gemeinschaftsorientierte Sonderwohnformen im Erdgeschoss (Pflegewohnen, Clusterwohnen) belebt.
200% BRUTTOGRUNDFLÄCHE – VERDICHTEN = ANDERS PERFORMEN
Der Quantensprung der Sieben (R)evolutionen
Die Patchwork Familie hat für die Verdoppelung der Wohnfläche zu sorgen. Anstatt Speck anzulegen zieht sie es vor, das Mehr an Masse in typologische Intelligenz zu verwandeln. Jedes einzelne Haus der elterlichen Zeilenbauten verwandelt sich anhand spezifischer Transformationen – Teilen, Wachsen, Abheben, Doppeln, Vermehren, Koppeln und Kombinieren – in eine singuläre Konfiguration, zusammengesetzt aus Punkt-Band- und Riegelelementen: sieben (R)evolutionen, offen für unterschiedlichste Lebensmodelle, maßgeschneidert für den Ort, komplementäre Bausteine für ein inklusives Quartier. Die Vermehrung der Baumasse wird zur Spielmasse für einen performativen Quantensprung – eine Hommage an die Ambitionen der Großeltern des Weißenhofs.
ANDERS PERFORMEN = BESSER LANDEN
Häuser als Bausteine des Quartiers
Die Landung der Typen im Erdgeschoss ist komplementärer Bestandteil der topografischen Reparatur. Die Landung jedes einzelnen Bausteins übernimmt topografisch, räumlich und programmatisch eine spezielle Aufgabe und macht die Gebäude zu proaktiven Teamplayern des Quartiers.
DER ALLTAGSAUFTRITT DER PATCHWORK FAMILIE
Alles unter einem Dach: Synergie von Typus, Bauweise und Konstruktion
Die Kombination von Holzelement- und Beton-Skelettbau vereint nachhaltige Bauweise mit langfristiger Anpassbarkeit, atmosphärischer Qualität (Holzoberflächen) und entsprechender Wirtschaftlichkeit durch den hohen Grad an Vorfertigung. Serielle Fertigbäder formulieren Fixpunkte innerhalb einer offenen Struktur mit maximierten Spielräumen der Aneignung (teilen, koppeln, offenlassen). Im Vorfeld der Vergabe können die Bauträger nicht nur unterschiedliche Wohnschlüssel, sondern auch unterschiedlicher Wohnmodelle anbieten. Mit Ausnahme der Mikrohofhäuser, die einen etwas höheren Festlegungsgrad besitzen, ist jedes Haus ein offenes Plateau mit präzise platzierten Fixpunkten, zwischen denen sich der Alltag unterschiedlich ausleben lässt. Ob Generationenwohnen, Pflegewohnen, Wohncluster, Wohngemeinschaften, Etagengemeinschaften, Single-, Paar- oder Familienwohnen: alles kann potenziell unter einem Dach stattfinden. Die innere Variabilität der Häuser erlaubt Freiheitsgrade weit über die Vorgaben der Ausschreibung hinaus. Das für den Wettbewerb vorgeschlagene Szenario ist folglich eines unter vielen möglichen Aktivierungsbeispielen
Atmende Häuser – Resilienter Low-Tech
Das dauerhaft elastische Nutzungsspektrum wird durch das klimatische Atmen der Gebäude ergänzt: vertikales Grün, innovative gebäudeintegrierte Freiräume und ein hoher Grad an Mehrfachorientierung sorgen für beste mikroklimatische Qualitäten im Dialog mit den Saisonen – steuerbar auf einfachste Weise durch Vorhänge und das Öffnen bzw. Schließen der Fenster.
GRÜN UND FREIRAUM
Baumarchipele – Floating Islands
Freiraumarchipele mit dem hochwertigen Baumbestand prägen die Landschaft des neuen Quartiers. Als Floating Islands stehen sie den Bewohner*innen für unterschiedlichste Nutzungen zur Verfügung und können partizipativ mitgestaltet werden. Mit einer umlaufenden Einfassung integrieren sie sich in die neue Topographie und werden zu klar umrissenen Freiräumen für beschatteten Aufenthalt und Spiel, zur Arbeitszone, zum Naturraum oder zum geheimen Garten. Mit den weiteren Grünflächen wie Spielwiesen oder Urban Gardening gleicht das Quartier einem offenen Park.
Quartiersdiagonalen – Abfolge von Mikroplätzen mit großzügigen Entrees
Die Quartiersdiagonalen bilden darin als erweiterte Wegeflächen eine Abfolge von Mikroplätzen, die mit den Gebäudenutzungen im Dialog stehen und als großzügige Entrees einladend in den Stadtraum treten. Sie können die notwendigen Erschließungsfunktionen für Einsatzfahrzeuge aufnehmen, das Quartier bleibt aber den Fußgänger*innen vorbehalten.
Schwammstadtprinzip
Sämtliche Beläge sind wasserdurchlässig und gleichzeitig wird die Topographie zur Versickerung genutzt. Breite Retentionszonen entlang der mittigen Erschließung können die Regenwässer aufnehmen. Als offene wechselfeuchte Zonen leisten sie einen Beitrag zu einem angenehmen Mikroklima.
MOBILITÄT
Sammelgaragen – Freiraum zuerst!
Das autofreie Quartier fängt den KFZ-Verkehr in 2 Sammelgaragen ab (Zu- und Abfahrt über Böschungseinschnitte am Rotweg, kurze Fußwege zu den Häusern), zwei eingeschüttete Split-Level Parkhäuser, die zur Reparatur der Topographie beitragen, indem sie die Landschaft zum Rotweg hin sanft anheben (Plateau). Entlang der drei Straßenränder sind Bereiche für Anlieferung, Vorfahrt, Müllabfuhr und Feuerwehr (Bewegungsflächen im Zufahrtsbereich der beiden Tiefgaragen) vorgesehen. Ein Paketdienst im Mobilitätszentrum an der Fleiner Straße sorgt in Ergänzung mit Lastenrädern, Handkarren und einer Quartiers-App für komfortable Mikromobilität. Zusätzlich zu den notwendigen Stellplätzen kann in den Sammelgaragen ein Car-Sharing Angebot eingerichtet werden.
Da die gesamte Müllentsorgung von den angrenzenden Straßen aus erfolgen kann und sämtliche Feuerwehrflächen auf ein Minimum reduziert sind (nur Buchten, kein Durchfahren von Einsatzfahrzeugen), wird der Binnenfreiraum von befahrbaren Flächen vollkommen freigehalten. Auf diese Wiese kann höchste Freiraumqualität bei wirtschaftlicher Errichtung garantiert werden.
Fahrräder gehen vor
Die Fahrradabstellflächen befinden sich stets in der Nähe des jeweiligen Hauseingangs im Erdgeschoss und teilweise auf den Etagen. Sofern es die Raumhöhe zulässt, wird das flächensparende Doppelstocksystem vorgeschlagen. Eine Fahrradwerkstatt als Treffpunkt an den Quartiersdiagonalen stärkt die Kultur nachhaltiger Mobilität auch auf sozialer Ebene.
Quartiersdiagonalen – inklusive Verbindungen
Die beiden Quartiersdiagonalen sind Ergebnis der topografischen Reparatur. Sie verknüpfen die 4 Eckpunkte des Quartiers und ermöglichen im Dialog mit den Katapulten (Kindergarten und „Halle Rot“) eine 100% barrierefreie Durchwegung (die Südwest-Nordost Diagonale ist mit ihrem maximalen Gefälle von 4% eine barrierefreie Direttissima).
VOM MUSTERHAUS ZUM MUSTERPROZESS
In der Patchworkfamilie schaut man aufeinander: In den Wohnungen, den Cluster-Wohnungen, den Pflege-WGs, im Haus, auf den Plätzen, im Quartier und darüber hinaus wird das Miteinander gelebt, und zwar von Anfang an.
Ein zentraler Baustein für eine gelungene Diversität und eine konstruktive Einbettung in das Quartier ist das Besiedlungsmanagement. Es wird von Anfang an in die Prozesse der Wohnungsvergabe und Hausverwaltung integriert: eine klare Struktur von moderierten Treffen und gemeinsamen Festen begleitet die Vermittlung der passenden Wohnung, das Kennenlernen und das Vernetzen. Künftige Bewohner*innen, die Genossenschaften, das Wohlfahrtswerk und weitere Quartiersakteur*innen begegnen sich entsprechend ihrer Interessen in Arbeitsgruppen und haben dort die Möglichkeit für kontinuierlichen Austausch.
Die Phase der Besiedelung ist ein entscheidender Moment für eine gedeihliche, zukünftige Nachbarschaft: Es soll eine Gemeinschaft möglich werden, die sich gegenseitig unterstützt und die Aktivitäten im Quartier aktiv mitbestimmt und selbst organisiert, und zwar langfristig. Darum werden die neuen Bewohner*innen bei den ersten Schritten ins neue Quartier besonders unterstützt. Eine Anlaufstelle vor Ort steht Interessierten bereits vor Bezug regelmäßig zur Verfügung. Mit der Schlüsselübergabe beginnt die herausfordernde Phase des Um- bzw. Einzuges. Das Beiratsteam bietet mithilfe von Social Businesses und lokalen Unternehmen, möglichst aus Rot, die notwendige Unterstützung an. Dazu zählen etwa Umzugshilfe, Baustellenküche, Kinderbetreuung, Pop-up Stores, Werkzeugkisten uam. Mit einem Quartiersfest werden die Einzüge gemeinsam mit allen Beteiligten gefeiert und die IBA 2027 Willkommen geheißen.
Beurteilung durch das Preisgericht
©StutdioVlayStreeruwitz mit rajek barosch landschaftsarchitektur
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