Offener Wettbewerb | 01/2024
Quartiersentwicklung Matthäikirchhof Leipzig
©RIEHLE KOETH
Lebendige Agora als Quartiersmittelpunkt
1. Preis
Preisgeld: 24.000 EUR
Stadtplanung / Städtebau
-
Verfasser:
-
Mitarbeitende:
Mario Walker, Philipp Vögele, Johannes Rinderknecht, Florian Nerz, Katharina Klug
Erläuterungstext
Der Neue Matthäikirchhof soll als innerstädtisches Quartier einen Ort der gelebten Demokratie für die Stadt Leipzig ausbilden. Zur historischen Stadtstruktur wird durch Wiederaufnahme alter Wegeverbindungen und Baukanten ein starker Bezug hergestellt. Teile des ehemaligen SED-Verwaltungsbaus bleiben erhalten. Sie sollen revitalisiert und als öffentlich genutzter Baustein mit in den Quartiersgrundriss eingewoben werden. Zwischen den Baukörpern, die neu entstehen, ordnen sich attraktive öffentliche Freiräume um wichtige Knotenpunkte an und vernetzen das Quartier mit der Umgebung.
Zum zentralen Element des Neuen Matthäikirchhofs wird das „Forum für Freiheit und Bürgerrechte“ mit den beiden angrenzenden öffentlichen Freiräumen Agora und Stadtplatz. Der neue Körper setzt sich durch seine klare Kubatur als Solitär selbstbewusst in die Quartiersmitte. Zwischen Forum und dem erhaltenen Schenkel des ehemaligen SED-Verwaltungsbaus bildet sich die multifunktionale Agora aus. Sie öffnet sich über die Klingertreppe zum Promenadenring und führt das Grün ins Quartier hinein. Durch den Bezug zum angrenzenden erhaltenen SED-Baukörper und den Zugang zum Stasi-Unterlagenarchiv wird die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit hier zum wichtigen Thema. Östlich des Forums bildet sich hingegen ein neuer Stadtplatz am Schnittpunkt wichtiger Wegeverbindungen. Als Ankommenspunkt der Jägerhofpassage wie auch der Großen Fleischergasse und als Auftakt einer neuen Querverbindung zur Klinger-Treppe festigt er den Bezug zum Stadtzentrum. Der räumliche Charakter des Platzes und die Platzgestaltung mit einer zentralen Installation stellen hier starke Bezüge zur historischen Bedeutung des Ortes, zur frühen Stadtgeschichte und der Matthäikirche her.
Das Thema des Weiterbauens und des Ergänzens mittels weniger, gezielter Interventionen ist ein weiterer zentraler Baustein des Konzeptes. Im Südosten entsteht ein neuer, öffentlich genutzter Baustein. Dieser nimmt Kanten und Fluchten seines Gegenübers auf und bildet beinahe eine Art Zwilling. Diese Komplettierung des Blocks vervollständigt die Stadtstruktur und ermöglicht die Bildung eines neuen Quartierseingangs.
Freiräume
Die neuen Freiräume des Quartiers bieten im wahrsten Sinne des Wortes Räume für ein freies urbanes Leben und fügen sich selbstverständlich in das historische Gefüge der Umgebung ein. Sie sind Fußgängern und Radfahrern vorbehalten. Die unterschiedlichen, klar definierten Freiräume sind für Begegnungen, gemeinschaftliches Miteinander und vielfältige Veranstaltungen konzipiert. Gleichzeitig berücksichtigen sie die Prinzipien der Schwammstadt und der Klimaanpassung: Versiegelte und begrünte Flächen werden so gestaltet, dass Regenwasser vor Ort versickert und verdunstet oder zugunsten der Vegetation gespeichert wird.
Der Stadtplatz im Schnittpunkt von Großer Fleischergasse und Jägerhofpassage ist fester Bestandteil des Rundgangs durch die Leipziger Altstadt und lädt zum Flanieren und Verweilen ein. Er ist gleichzeitig der Vorplatz des Forums und kann vielfältig genutzt werden. Ein Brunnen und ein großer Baum mit Podest als "Speaker Corner" gliedern den Raum.
Die Agora als leicht abgestufte Rasenfläche, klar begrenzt durch Fassaden, Baumreihen und die alte Stadtmauer zum Promenadenring, bildet einen offenen, multifunktionalen Grünraum in der Stadt. Hier kann man sitzen, liegen, spielen oder an den vielfältigen Außenaktivitäten des Forums teilnehmen.
Der Museumshof wird zu einer ruhigen, kontemplativen grünen Oase mit erhöhter Biodiversität für die Bewohner und Besucher des Museums und des Archivs umgestaltet. Das Museum kann hier eine attraktive Caféterrasse erhalten. Die beiden halböffentlichen Wohnhöfe sind ebenfalls großzügig begrünt, ermöglichen aber eine fließende Durchwegung und Belebung des Erdgeschosses durch Ateliers, Läden und eine Galerie. Spielmöglichkeiten für Kinder aller Altersgruppen und Sitzgelegenheiten unter Bäumen tragen zu einer angenehmen Wohnatmosphäre bei. Die Neue Töpferstraße wird entlang der verbliebenen Reste der Stadtmauer als erhöhte Stadtpromenade zwischen Stadt und Park wiederhergestellt. Sie ist ein bevorzugter Aufenthaltsort mit Blick in den Park und für Gastronomieterrassen.
Bezüge zur historischen Stadtstruktur
Im Norden des Quartiers entsteht aus dem Bestand am Wagnerplatz und den neuen Wohngebäuden ein großer Block, ähnlich wie im historischen Stadtgrundriss. Auch der verbleibende Schenkel des ehemaligen SED-Verwaltungsbaus gliedert sich in diesen Block ein. Die südliche Gebäudekante dieses Baukörpers liegt nahezu an derselben Stelle wie die historische Häuserflucht. Ein Abriss und Neubau ist daher hier nicht sinnvoll.
Zum Promenadenring wird die Wegeverbindung der alten Töpferstraße entlang des Blocks wiederbelebt. Momentan versperrt der Bestand aus den 80er Jahren die Durchwegung des Quartiers in Ost-West Richtung. Durch das Entfernen der entsprechenden Teile des Bestandes wird diese historische Verbindung der Jägerhofpassage bis zur Klinger-Treppe wieder ermöglicht und somit die direkte Anbindung an den Promenadenring.
Pragmatischer Umgang mit dem Bestand
Der Anforderung an das Quartier, sich zur Stadt hin zu öffnen und die vorherrschende Abschottung aufzuheben, wird der Entwurf durch einen teilweisen Abbruch des bestehenden SED-Verwaltungsbaus gerecht.
Die Tragstruktur des hohen Gebäudeschenkels in Ost-West-Richtung bleibt als graue Energie erhalten, da sie sich in einem guten baulichen Zustand befindet und sich gut in den neuen Quartiersgrundriss einfügt. Sie verfügt zudem durch ihr günstiges Grundraster über eine hohe Flexibilität, was den Ausbau betrifft.
Der Entwurf sieht vor, die Fassade und den Innenausbau auf zeitgemäße energetische und funktionale Standards anzuheben. Das Staffelgeschoss wird bis auf die Tragstruktur zurückgebaut um Platz für einen öffentlichen Dachgarten zu schaffen. So gleicht sich der Bestandskörper zudem in seiner Höhe der baulichen Umgebung an.
Alle weiteren Bestandteile des SED-Verwaltungsbaus werden abgebrochen, da sie starke Schäden an ihrer Bausubstanz aufweisen und so ein Erhalt aus ökonomischer Sicht nicht sinnvoll erscheint. Einer Öffnung und Durchlässigkeit des neuen Quartiers zum Stadtzentrum und zum Promenadenring würden diese beschädigten Teile ebenfalls entgegenwirken. An die östliche Abbruchfuge werden die neuen Gebäude des nördlichen Blocks an den Bestandskörper angedockt.
Nachhaltiger Städtebau
Das umfangreiche Grün des Promenadenrings findet in der Agora seine direkte Fortsetzung. Die Innenhöfe des nördlichen Blocks sowie der Museumshof zwischen Forum und Runder Ecke werden als grüne Freiräume mit Bäumen, Sträuchern, Stauden und Blumenwiesen gestaltet. Hier entsteht eine große Biodiversität. Versiegelte Flächen werden im Quartier minimiert.
Beurteilung durch das Preisgericht
Der Entwurf verfolgt einerseits die Wiederaufnahme älterer Wegeverbindungen und Baukanten und schlägt andererseits vor, die Bestandsgebäude bis auf den nördlichen Riegel zurückzubauen, um einem zentralen Baustein, dem fünfgeschossigen Solitär mit dem „Forum für Freiheit und Bürgerrechte“, den notwendigen Raum und die gewünschte Präsenz zu geben.
Der nördliche Bestandsflügel des SED-Verwaltungsbaus bleibt dabei erhalten und wird als öffentlich genutzter Baustein in die neue Bebauungsstruktur eingefügt. Positiv bewertet wird im Kontext der geforderten Ressourcenschonung der Ansatz, die „Graue Energie“ zu nutzen und zugleich den erhaltenen Bestandsflügel zeitgemäß umzuformen. Die angrenzenden Innenhöfe der Wohnbebauung haben im Verhältnis zur Geschossigkeit eine angemessene Größe und sind gut proportioniert. Demnach sind alle Baukörper ausreichend besonnt bzw. belichtet und bieten den künftigen Bewohnern vorteilhafte Wohnbedingungen.
Das Preisgericht würdigt besonders die stadträumliche Inszenierung der neu geschaffenen und unterschiedlichen Freiräume: im Westen entsteht die großzügige Agora, die vom Park über die Klinger-Treppe einlädt und den Blick bereits vom Goerdelerring auf das Forum eröffnet. Die Agora wird dreiseitig von Baukörpern gerahmt und erhält so eine angemessene Maßstäblichkeit, die die notwendige Nutzungsoffenheit und Bespielbarkeit ermöglicht. Die öffentliche Nutzung des flankierenden Bestandsflügels und die offene und einladende Erdgeschosszone des Forums als Ort des gesellschaftlichen Diskurses erlauben die gewünschten Synergien und fließenden Übergänge zwischen Platzraum und Gebäude.
Im Osten zur Großen Fleischergasse entsteht ein urbaner Platz, der sich Richtung Kernstadt öffnet. Hier schlagen die Verfasser einen weiteren mehrgeschossigen Baukörper mit öffentlicher Nutzung vor, der für die Komplettierung der städtebaulichen Figur mit den Bestandsgebäuden am Dittrichring sorgt. Im Süden liefert der Solitär dem rückseitigen Freiraum der „Runden Ecke“ ein Gegenüber und schafft damit die inhaltliche und räumliche Verbindung zu dieser Gedenkstätte und dem Archiv.
Die Bespielung und Gestaltung der Erdgeschosszone kommt bei diesem Entwurf, der das Forum in dem freistehenden und allseitig bezugnehmenden und betretbaren Kubus verortet, besondere Bedeutung zu. Dabei müsste auch der Anlieferungsaspekt bedacht werden.
Die Größe und Maßstäblickeit des Solitärs wird kontrovers diskutiert. Von Nutzerseite wird allerdings positiv hervorgehoben, dass das große Volumen bzw. die Kubatur des Gebäudes die funktionalen Anforderungen sowohl der historisch-politischen Arbeit als auch der archivfachlichen Arbeit erfüllt und hier gute Voraussetzungen für die Funktionen im Forum geschaffen werden. Der Aspekt der Präsenz und der von unterschiedlichen Seiten im Stadtraum leichten Wahrnehmbarkeit des Forums sorgt dafür, dass die Geschichte hier nicht marginalisiert, sondern gut sichtbar im städtischen Raum zur Debatte gestellt wird.
Die bereits in den Fachwerkstätten viel diskutierte und gewünschte Öffnung des neuen Stadtareals, die niedrigschwellige Erreichbarkeit und die Einladung der Öffentlichkeit ins Forum als Ort der Demokratie sieht das Preisgericht in dem Entwurf sehr gut umgesetzt.
©RIEHLE KOETH
Axonometrie
©RIHELE KOETH
Lageplan
©RIEHLE KOETH
Schnitt Agora - Forum - Stadtplatz
©RIEHLE KOETH
Schnitt Wohnhöfe - Bestand - Forum - Museumshof
©RIEHLE KOETH
Verzahnung grüner und städtischer Freiräume
©RIEHLE KOETH
Forum als verbindendes Element zwischen Agora, Stadtplatz und Museumshof
©RIEHLE KOETH
Bestehende städtische Strukturen weiterbauen